VORKOMMEN VON VITIS SYLVESTRIS WÄHREND DER EISZEIT IN IBERIEN

Klimatische Situation in Iberien 

Während der Eiszeit vor 20.000 Jahren lag der Meeresspiegel aufgrund des als Festlandleis gebundenen Wassers bis zu 110 Meter tiefer als heute. Die Gebirgszüge der Iberischen Halbinsel, wie die Pyrenäen mit dem Kantabrischen Gebirge, die Gebirgslagen von der Sierra Nevadabis Murcia sowie von der Serra da Estrela bis Valencia wiesen Vergletscherungen auf und das Klima im Landesinneren der Iberischen Halbinsel kontinentalere Züge, wohingegen die Küstenregionen durch einen ausgeglichenen Temperaturgang geprägt waren. Die Küstengebiete des Mittelmeers und der südliche Küstenstreifen des Atlantiks waren aufgrund der vorliegenden Wassertemperaturen durch ein für die thermophile Vegetation begünstigtes Klima geprägt. Allerdings muss erwähnt werden, dass die Durchschnittstemperatur der Mittelmeerküste Spaniens um mehr als zehn Grad niedriger war als in der Gegenwart (heute: 22 °C). Bei Marseille lagen die durchschnittlichen Sommertemperaturen nur bei etwa 10 °C, bedingt durch kalte Winde, die vom vergletscherten Nordeuropa Richtung Süden wehten und denselben Korridor westlich der Alpen benutzten wie der heutige Mistral. Die Wassertemperaturen vor Libyen, Ägypten und den östlichen Mittelmeerländern hingegen betrugen auch während der Eiszeit mehr als 20 °C (heute: bis 26 °C). Die östlichen Regionen befanden sich unter dem Einfluss der antizyklonalen Strömung des Eurasischen Kältehochs, wohingegen dem Westen aufgrund des südlichen Arms des Polarjets Feuchtigkeit aus dem Atlantik zugeführt wurde (Hayes, Kucera et al., 2004; Kucera, 2008).

Historische Migration

Die europäischen Baumarten in Zentraleuropa nördlich der Pyrenäen und Alpen sowie im Osten des Kaukasus waren verdrängt worden und konnten aufgrund der ungünstigen klimatischen Bedingungen nur in weiter südlich gelegenen Rückzugsgebieten überdauern. Die genaue Lage der kaltzeitlichen Refugien der Gehölze ist nicht immer ganz eindeutig. Dies betrifft auch die Gattung Vitis. Der Mittelmeerraum gilt jedoch aufgrund von Funden pflanzlicher Reste in kaltzeitlichen Ablagerungen als Refugialgebiet der meisten heutigen mitteleuropäischen Baumarten, wie zum Beispiel der Rotbuche (Fagus sylvatica). Vermutlich konnten einige Arten auch am Südostrand der Alpen und auf dem Balkan überdauern (vgl. Walter und Straka, 1970: 243ff.). Da schon die Ermittlung der kaltzeitlichen Refugien mit einigen Schwierigkeiten und Unsicherheiten verbunden ist, muss auch die Rekonstruktion der Einwanderungswege einzelner Arten mit einer gewissen Vorsicht betrachtet werden. Für Europa wird angenommen, dass die Wanderungsprozesse vor allem entlang der großen Talsysteme verliefen. Die Burgundische Pforte mit den Talsystemen der Rhône und des Rheins und die Mährische Pforte mit den Tälern der Donau, der Moldau und der Elbe boten die Möglichkeit, die Alpen seitlich zu umwandern. Man kann davon ausgehen, dass die in der Neuzeit vorgefundenen Vitis sylvestris‑Populationen in Mitteleuropa auf Rückwanderung aus den Rückzugsgebieten zurückzuführen sind. Ganz anders ist die Situation Iberiens, das als Halbinsel isoliert war und wo sich die Migration im Prinzip innerhalb der Halbinsel vollzog.

Es sei hier auf die Auswirkungen der geographischen Unterschiede zwischen Europa einerseits und Nordamerika sowie Ostasien andererseits hingewiesen. Denn während in Europa die Gebirgszüge der Pyrenäen, der Alpen und der Tatra infolge ihres West‑Ost‑Verlaufs einem südwärtigen Ausweichen der Vegetation vor den Inlandseismassen entgegenstehen, erfolgte dies in den letztgenannten Großregionen problemlos. Als Folge ergibt sich für Europa nicht nur eine Florendezimierung, so dass bei jeder eiszeitlichen Vereisungsprogression vom Verlust vieler Arten auszugehen ist. Ebenso entsteht eine schärfere Trennung zwischen der mediterranen und der mitteleuropäischen Provinz.

Einen Beleg hierfür erbringt der Vergleich mit den westlichen Provinzen Nordamerikas, wo eine höhere Artenkonzentration einheimischer Arten herrscht als in Mitteleuropa und in denen zum Beispiel Pinus‑Arten, die Gattungen Ginkgo und Magnolia sowie 35 Vitis‑Arten vorkommen, wohingegend Europa beispielsweise nur über eine Vitis (Vitis vinifera L.) verfügt. Auch besagt dies, dass in Nordamerika die Wiederbesiedelung der ehemaligen Auswanderungsgebiete während des Holozäns viel rascher erfolgte als in Europa (Richter, 1997).

Verbreitung von Vitis sylvestris im Südeuropa der letzten Eiszeit

Die klimatischen Schwankungen führten dazu, dass bestimmte Arten verdrängt wurden, wohingegen andere sich ausbreiten konnten. Die Beschreibungen der eiszeitlichen Vegetationsbedeckung im Mittelmeerraum divergieren jedoch je nach Autor, was sich aufgrund unterschiedlicher pollenanalytischer Untersuchungen ergibt (vgl. Straßburger, 2008; Ménéndez & Florschütz, 1964).

Eine Erklärung für das unterschiedlich dominante Auftreten von Vegetationsformen lässt sich auf kleinere Klima‑ Inhomogenitäten zurückführen. So kann angenommen werden, dass im oft waldfreien, von mediterranen und submediterranen Steppen bedeckten Südeuropa nur in günstigen Lagen Gehölze auftraten. Diese Habitate der oftmals submontanen Höhenstufe sowie der feuchten Flussniederungen bildeten die Refugialräume für die Mehrheit der heutigen Gehölze Europas, zwischen denen Vitis sylvestris überleben konnte. Hierzu zählen die verbliebenen tief gelegenen Zonen Andalusiens, der Estremadura, der Algarve und des Alentejo, das maritime Portugal bis zum Minho sowie Teile des Douro‑Tals und möglicherweise das Rioja mit dem Ebro‑Tal. Diese Bereiche waren bedeckt von offenen, steppenhaft‑verinselten Nadelwäldern im nördlichen und zentraliberischen Raum sowie disjunkten geschlossenen Laubmischwäldern und Laubwäldern im Süden wie auch entlang des Atlantik‑ und des Mittelmeerküstenstreifens. Ebenso lässt sich sagen, dass aufgrund von Pollenfunden eine ArtemisiaChenopodiaceae‑Steppenvegetation häufig vertreten war, wie beispielsweise in der iberischen Region Padul, Provinz Granada in Südspanien etwa 750 Meter ü. M. (Ménéndez & Florschütz, 1964).

Was Vitis vinifera betrifft, so wanderte diese Spezies in der nacheiszeitlichen Warmzeit vor rund 7.000 Jahren durch die Flusstäler von Rhône, Rhein und Donau nach Westen und Norden zurück.

^